Zwischen Pegasos und Chimäre
Bellerophon, Akt II
Wir erinnern uns: Der griechische Held Bellerophon zähmt den Pegasos, erschlägt die Chimäre und überlebt königliche Ränke, die ihm hinter seinem Rücken den Tod in Rechnung stellen wollen. Schließlich gewinnt er auch noch einen Krieg, eine Prinzessin und ein halbes Königreich, und wird von Zeus wegen Anmaßung in den Tod gestürzt. Aber selbst dieser göttergewollter Fall ändert nichts daran, dass wir es hier mit einem echten Superstar der Antike zu tun haben. Es lohnt sich deshalb auch, bei diesem Helden einmal hinter die Kulissen, und damit hinter den Mythos zu schauen.
Dabei ist dieser Mythos nämlich keinesfalls so konsistent erzählt wie etwa die Geschichte von Herakles. Trotz des vergleichsweise übersichtlichen Taten-Kataloges gibt es hier einige Unstimmigkeiten und Varianten. Zu den wichtigsten, bereits im letzten Artikel angeführten sowie dem üblichen Namen-Durcheinander kommen unter Anderem folgende:
Während die Tat, die Bellerophon an den Hof von König Proitos führt, in der Geschichte im Vordergrund steht, bleibt die Identität des Opfers schwammig: Meist wird der Tyrann Belleros angeführt, durch den der Held seinen Namen erhält; Bellerophontes kann demnach mit Belleros-Mörder übersetzt werden. In anderen Fassungen ist es sogar der eigene Bruder, der unter verschiedenen Namen (z.B. Deliades) auftaucht. Bei Pausanias ist es gar eine Brautwerbung und kein Gewaltverbrechen, die den Helden an den Hof von Tiryns bringt. Darüber hinaus kehrt Bellerophon in einigen Fassungen ein letztes Mal nach Argos zurück um sich an Stheneboia zu rächen. So lädt er sie zu einer Spritztour auf Pegasos ein um sie dann – für uns wenig heldenhaft – aus dem Sattel zu schubsen. Auch bei seinem eigenen Sturz gibt es Unklarheit, da beispielsweise in der ältesten überlieferten Fassung von Homer kein Bezug darauf genommen wird.
Verschriftlicht finden wir Bellerophon bereits seit Homer, dann in der klassischen Zeit, etwa bei Pindar (1. Hälfte 5. Jh. v. Chr.) bis in die entwickelte römische Kaiserzeit (2./3. Jh. n. Chr.), so bei Apollodorus von Athen, Pausanias oder in Hyginus‘ Fabulae. Der Ursprung des Epos dürfte allerdings mit Sicherheit weitaus älter sein, wobei sich lykische Märchen und griechische Sagen-Elemente miteinander verbinden. Es ist sogar durchaus möglich, dass es sich bei Bellerophon ursprünglich um eine archaische Himmelsgottheit gehandelt hat, die später zum Heros „degradiert“ wurde.
Letztendlich ist es also schwer nachzuvollziehen, was im Laufe der Zeit verändert worden ist – oder welche Elemente durch den Verlust der oralen Traditionen vergessen wurden, so dass das Epos nun relativ formelhaft erscheint.
Ein Superstar der Antike
Es ist unzweifelhaft, dass Bellerophon zu den größeren Helden der Antike gerechnet werden kann. Die Verehrung des Helden, die mit Korinth und Lykien gleich zwei Epizentren hat, zeigt zusammen mit den Handlungsorten des Mythos die überregionalen Verbindungen, die bereits zwischen den damaligen Fürstenhöfen bestanden haben dürften.
Die große Beliebtheit durch die gesamte Antike zeigt sich auch in der Kunst, vor allem in der Vasenmalerei. Allerdings ist das mehr als deutlich dominante Thema immer: Bellerophon & Pegasos vs. Chimäre. Hierbei wirkt das geflügelte Pferd weniger wie ein Attribut des Helden (wie etwa das Löwenfell bei Herakles oder das Medusenhaupt bei Perseus), sondern vielmehr gehen beide eine Art Symbiose miteinander ein, eine unzertrennliche Einheit. Erst zum Ende des 5. Jahrhunderts tauchen auch andere Motive auf, jedoch ausschließlich in der der unteritalischen Vasenmalerei.
Vielleicht ist es gerade diese bildliche Darstellung Grund dafür, dass der Held in nachchristlicher Zeit immer weiter auf genau diese Tat reduziert und nicht mehr unabhängig von den beiden Kreaturen wahrgenommen wird. Neben der Malerei findet sich das Bellerophon-Motiv u.a. auch als Relief auf bzw. an antiken Sarkophagen und Grabanlangen, etwa im Heroon von Trysa (heutige Türkei). Die in diesem Zusammenhang vielzitierte, etruskische Bronzestatue Chimära von Arezzo zeigt allerdings nur das Ungeheuer, nicht aber den Helden.
Taten und Gegner
Auf den heutigen Betrachter wirkt die Heldenvita von Bellerophon nahezu schematisch, fast formelhaft. Wie bei einer Checkliste werden gewisse klassische topoi erfüllt, um bei den großen Jungs mitspielen zu können:
Eine einzigartige Fähigkeit (das Reiten des Pegasos), eine göttliche Weisung (der Traum am Heiligtum), die Gunst und Geschenke (das Zaumzeug der Athene), die Untat, die ihn dazu zwingt einem „minderen“ zu dienen (ähnlich dem Herakles), die Reinigung und letztlich der tragische Fall, hier sogar ganz buchstäblich. Vom Kampf gegen übermenschliche Gegner (Chimäre, Solymer und Amazonen) ganz zu schweigen. Die Umstände der Handlungen und Ereignisse erscheinen dabei nebensächlich. Auch der Held selbst kommt recht zweidimensional daher: Außer dem Reiten des Pegasos fehlt es an Attributen, Charakterzügen oder anderen Merkmalen.
Für unsere Augen wirkt der Mythos deshalb auch sehr allegorisch und märchenhaft, mehr als so manch anderer. Uns fehlt vor allem die antike Sichtweise auf den Symbolgehalt des Epos, die uns „die Dinge dahinter“ erkennen lässt. Helfende Details, die der ganzen Geschichte für unsere Augen Substanz verleihen, bleiben unbekannt.
Der Vergleich zu anderen antiken Helden, die es in die heutige Zeit geschafft haben - etwa Jason, Odysseus oder Herakles – verdeutlicht dieses Problem: Im Gegensatz zum Bellerophon-Epos lassen sich deren Geschichten als erdige Fantasy-Abenteuer erleben und erzählen, sogar in Bild und Film massentauglich und populär verarbeiten. Hier wirken Probleme und Lösungen ebenso detailfreudiger wie greifbarer: Die Protagonisten sind trickreich, sehen unbekannte Möglichkeiten und Lücken oder müssen wirklich die Ärmel hochkrempeln und sich durchbeißen. Kurz: wir blicken in diesen Fällen vielleicht eher auf die menschliche Seite der antiken Heroen, als auf das, was sie – so auch Bellerophon – wirklich sind: Ein Bindeglied zwischen Göttern und Menschen.
Nur der Kampf gegen die Chimära bleibt exotisch und spannend genug, um diese Kriterien moderner Popularität zu erfüllen, und in Zusammenhang mit der Bilderkunst ist es genau das, worauf der Held Bellerophon in unseren Gedächtnissen meist reduziert und abstrahiert wird: Ein Symbol, für dessen Bedeutung uns der Blick fehlt.
Exotischer und damit auch interessanter wirken auf uns die beiden Kreaturen Pegasos und Chimära. Diese haben nicht zuletzt durch das Aufkommen der ersten Fantasy-Rollenspiele schon längst Einzug ins Genre gehalten und gehören heute zum Standardrepertoire zahlreicher phantastischer Welten und Geschichten. Dabei funktionieren sie allerdings voneinander unabhängig undlosgelöst vom Epos und kulturellem Zusammenhang. Auch sind sie keine Einzelkreaturen, sondern jeweils gleich eine ganze Spezies. Es ist eine Art Lassie-Effekt: Das Tier läuft dem Hauptakteur den Rang ab.
Bellerophon in der Moderne
In der modernen Archäologie gibt es allerdings neben der märchenhaft-allegorischen Seite auch Betrachtungsweisen mit ausdrücklich historischem Kern: So könnte hinter der Bändigung des Pegasos die Verbildlichung des Wandels vom antiken Streitwagenkämpfer zum Reiterkrieger stehen, deren Tradition gerade im Vorderen Orient älter seien dürften als in Europa. Eine Schlagwörter der Sage verlängern sich auch in die Moderne:
- In Film „Mission Impossible II“ mit Tom Cruise sind Chimära und Bellerophon Bezeichnungen für einen Designervirus und dessen Heilmittel.
- Die HMS Bellerophon, ein 74-Kanonen-Linienschiff, war eines der berühmtesten Kriegsschiffe Großbritanniens im Krieg gegen Napoleon und nahm 1805 an der Schlacht von Trafalgar teil.
- Im Film „Kampf der Titanen“ (1981) wird Pegasos von Perseus gebändigt und ist das letzte seiner Art aus einer dem Zeus zugeordneten Herde.
- In Medizin und Biologie bezeichnet der Begriff „Chimäre/-a“ Organismen, die sich aus genetisch verschiedenen Zellentypen oder Gewebearten aufgebaut sind.
Letztendlich ist Bellerophon jedoch weit weniger populär, als seine Geschichte und dessen historische Tragweite verdient. Den letzten Hinweis auf seine mangelnde Popularität lieferte mir übrigens das Schreiben dieses Textes : Hier kreidete mir die Rechtschreibprüfung den Namen „Bellerophon“ als Fehler an, nicht aber „Herakles“ – oder aber „Jahrhundertmatch“.
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