Alles andere ist Fasching
Am Rosenmontag ist Köln eine Stadt im Ausnahmezustand. Als Anrainer der Einfallsroute wohnt man plötzlich mitten im Krisengebiet. Ein Kriegsbericht.
7:00 Uhr
Die Ruhe vor dem Sturm. Durch Evakuierungsmaßnahmen am Vortag sind Sachsenring, Karolingerring und Chlodwigplatz praktisch wie leergefegt. Auf der Severinsstraße haben Ladenbesitzer ihre Geschäfte verbarrikadiert. Bollwerke aus Stahl wurden geschanzt, um später die Massen zurückzuhalten.
7.10 Uhr
Erste Kundschafter inspizieren das Terrain. Bereits vor Wochen haben sich die Parteien auf einen Austragungsort geeinigt, der nun in Augenschein genommen wird. Ulrepforte und Severinstor sind bereits beflagt, die Wimpel und Fahnen knattern im morgendlichen Wind.
7.30 Uhr
Die Roten Funken öffnen die Ulrepforte. Fußvolk tropft langsam aus den Toren der alten Bruchsteinfestung und nimmt Haltung an.
7.50 Uhr
Die Ringe und Plätze sind immer noch wie ausgestorben. Einsam reitet ein Herold der Blauen Funken den Sachsenring hinab, er kommt der Roten Pforte gefährlich nahe. Auf Befehl werden die großen Banner der Bastion entrollt. Der Süden zeigt Flagge, Rot und weiß sind die Farben der Stunde.
8.00 Uhr
Aufmarsch der ersten Regimenter. Mülheimer Narrenzunft, Nippeser Bürgerwehr und die Römergarde gehen auf Position. Die fidelen Zunftbrüder stimmen die ersten Marschlieder an, die Burggrafen stimmen ein, ebenfalls fidel.
8.30 Uhr
Unter lautem Getöse rollen die ersten Kanonenwagen der Roten Funken heran. Die Geschützstände werden aufmunitioniert, Handwerker überprüfen ein letztes Mal die Tauglichkeit der traditionsreichen Gefährte.
8.50 Uhr
Eine Vorhut Jan von Werths hat den Kartäuserwall besetzt. Der Kommandant gibt den Befehl, beim Alaaf auf den Einsatz des Trömmelchens zu warten.
9.15 Uhr
Unter Marschmusik und Trommelwirbeln reiten die Blauen Funken die Bonner Straße herauf, im Schlepptau vier rollende Gechützstellungen, beflagt, bemannt und aufpoliert. Angesichts der blauen Kavalkaden verkündet der rote Herold den Hoheitsanspruch auf das Veedel. Eindringlich wird die die heimatliche Zugehörigkeit und der Zusammenhalt aller Truppen betont, egal, was auch passiere.
9.30 Uhr
Auf dem Chlodwigplatz treten die Zugführer zu letzten Verhandlungen zusammen. Die Journaille ist vor Ort, alle Entwicklungen werden eifrig kommentiert.
10.05 Uhr
Man entschließt sich, den Dom vorerst in Köln zu belassen, alles andere erscheine wenig sinnvoll. Kurz wird auch die Zukunft von Rathaus, Gürzenich und Ebertplatz diskutiert. Zuletzt einigt man sich jedoch darauf, die Stadtsanierung nicht überzustrapazieren.
10.15 Uhr
Die Komandanten kehren zu ihren Regimentern und Gruppen zurück. Zur Hebung der Moral wird die Rationierung von Alkohol aufgehoben. Die ganze Kompanie trinkt.
10.30 Uhr
Fanfarenklänge, Trommelwirbel und Kanonendonner verkünden den Einfall in die Stadt. Langsam setzt sich der Heerwurm in Bewegung und zieht durch das Severinstor in Richtung Kathedrale.
10:35 Uhr
In den Straßen prallen die erhitzen Gemüter aufeinander. Allerorten werden Strüßchen ausgefochten, barmherzige Frauen verteilen Bützchen an die Wehrlosen. Lachsalven, Stimmungskanonen und Frohsinnsmörser kartetschen Karamell in die Menge.
11.20 Uhr
Die Karawane zieht weiter.
11.35 Uhr
Der Sultan hat Durst.
11.50 Uhr
Die 17. Ordonanzkompanie hält die Stellung, während sich die 18. nach Chorweiler aufmacht. Die Flüssigversorgung der orientalischen Führung soll sichergestellt werden.
11.57 Uhr
Das Komitee reagiert umgehend: Mit Emphase wird verkündet, das Wasser der Stadt sei gut. Man solle nicht lamentieren, man solle feiern und frohen Mutes sein. Spaß und Freude habe schließlich noch niemandem geschadet.
13.05 Uhr
Die Propaganda funktioniert. Ein Offizier bestätigt: Man trinke mit, man stelle sich nicht an, man sei sowieso mit dem Radel da.
14.45 Uhr
Die Lage spitzt sich zu. Am Eigelsten scheint es Musik zu geben, auch von Tanz ist die Rede und einem hohen Aufkommen sittlicher Problemfälle. Dem Anführer der Lotterbove wird eine Rose aufs Gesäß gestochen. In Bickendorf kommt es vor einem Lokal zu Handgreiflichkeiten.
15.10 Uhr
Funkentöter, Narrengilde und Schlenderhaner Lumpen liefern sich in der Neustadt Scharmützel. Der Kapitän der Rheinflotte lässt mit schneidigem Heidewitzka die langen Rohre donnern. Die treuen Husaren haben Mühe, ihre nicht minderen treuen Pferde im Zaum zu halten.
15.25 Uhr
Am Gürzenisch und Heumarkt schlagen die ersten Langstreckenpralinen ein. Bonbonschrappnelle prasseln auf die Domplatte, Hunde legen Tretminen.
15.45 Uhr
Mit lautem Getöse rückt die Prinzengarde in die Stadt ein. Prinz Marcus II. befiehlt in lachendem Wahn die Eroberung der Stadt.
16.30 Uhr
Der Prunkwagen des Prinzen, eindrucksvoll von vier goldenen Greifen gezogen, schiebt sich unaufhaltsam über die getrampelte Erde der Schildergasse. Kurz dahinter: Die windigen Troßfolger, die im Staub der Straße nach alten Kamellen und Pfandflaschen suchen.
17.05 Uhr
Mit dem Einrücken der Prinzengarde ist die Stadt vollends dem Frohsinn anheimgefallen. Trunkenheit legt sich über die Stadt, „Viva Colonia“ schallt es allerorten.
18.00 Uhr
Es wird ruhiger. Ein Hauch von Alkohol, Zucker und Erbrochenem liegt in der Luft.
19.10 Uhr
Der Prinz erreicht den Dom. Das Dreigestirn verkündet feierlich den Sündenfall. Man singt Halleluja und Alaaf.
19.50 Uhr
Gnädige Dunkelheit umfängt auch die letzten Alkoholleichen. Einige Soldaten gehen bereits zu Bett. Für den nächsten Tag werden Autodafés angesetzt, um Ketzer und Sündenböcke dem Feuer zu übergeben. Endlich hat die Feierei ein Ende.
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